Der lange Weg von Justyn Ross: Spätes Glück in Kansas City?

2022-07-29 20:57:10 By : Ms. Jane Chan

Im Draft hörte Justyn Ross 262 Namen, die aufgerufen wurden. Keiner davon war seiner. Vor zwei Jahren erhielt der Wide Receiver noch die karrierebedrohende Diagnose einer Wirbelsäulenfehlbildung, dennoch galt er potentieller Pick in einer späteren Runde. Alles was er brauchte, war eine Chance. Die bekommt er jetzt nachträglich von den Kansas City Chiefs.

München - Der lange Weg des Justyn Ross beginnt im Frühling 2020. Bei einer Slant Route im Training, die er schon hunderte Male gelaufen ist, passiert es. Ross sieht den Linebacker nicht kommen und wird krachend zu Boden getackelt.

Der Receiver fühlt zwar eine Taubheit und ein Prickeln in den Armen, vermutet aber nur einen "Nacken-Stinger" - also einen Schlag auf die Nerven. Die Scans des Ärzteteams sollten etwas anderes beweisen.

Wenige Tage später wird Ross von seinem Coach Dabo Swinney in dessen Büro gerufen und findet sich vor ihm und dem gesamten medizinischen Personal wieder. Sogar seine Mutter Charay Franklin wird per Telefon dazugeschaltet. Das Ärzteteam erklärt dem aufstrebenden Athleten, dass er unter einer kongenitalen Halswirbelsynostose leide, dem sogenannten Kippel-Feil-Syndrom. Dabei kommt es zur Verschmelzung zweier oder mehrerer Halswirbel.

Die schlimmere Nachricht daraus ist die Konsequenz: Ross wird möglicherweise nie wieder Football spielen können.

"Ich will nicht lügen, in diesem Moment ist etwas in mir zerbrochen", sagt der 21-Jährige "ESPN". Sein Leben lang schon spielt er Football, doch plötzlich sollte er vielleicht nie wieder die Shoulder Pads anlegen, das Jersey darüber streifen und das Grid Iron betreten.

Erst zwei Jahre zuvor war der Mann aus Phenix City, Alabama, auf die Bühne des College Football gestürmt - und wie. Als Freshman fing er 1.000 Yards mit 46 Catches, dazu neun Touchdowns. Gemeinsam mit dem heutigen NFL-Quarterback Trevor Lawrence gewann er die nationale College-Meisterschaft in der höchsten NCAA Division.

Als Sophomore bestätigte Ross seine Zahlen auch im zweiten Jahr, fing 66 Pässe für 865 Yards und acht Touchdowns. Erste Prognosen ordneten ihn bereits als einen Top-15-Pick im Draft 2021 ein - dieser Pfad wurde aber zunächst verschlossen.

Kurz nach der Diagnose begann die Corona-Pandemie und die Colleges schlossen ihre Pforten. Ross begab sich in die Heimat, trainierte weiter und führte ein ums andere Gespräch mit verschiedenen Neurochirurgen, die ihm alle die gleiche Antwort gaben: Das Risiko, ohne OP weiterzuspielen, sei zu groß und deshalb erteile ihm niemand die Freigabe. Ross aber stellte seine Karriere über die Gesundheit.

Über die Clemson Tigers stellte er den Kontakt zum Neurochirurgen der Pittsburgh Steelers, Dr. David Okonkwo, her. Der hatte 2017 die Operation bei Steelers-Linebacker Ryan Shazier durchgeführt, der nach einem Hit temporär gelähmt war. Anschließend spielte Shazier zwar nie wieder Football, erlangte aber die Fähigkeit zu laufen zurück.

Nach mehreren Monaten und vielen Gesprächen mit Ross stimmte der Arzt letztlich der Operation zu. Im Juni war es so weit und Coach Swinney flog als Unterstützung nach Pittsburgh. Nach dem überstandenen Eingriff fragte er Ross, wie die Operation verlaufen sei, und ob er "eher 9-3 oder 6-6 sagen würde". Ross antwortete mit: "15-0".

Trotz der positiv verlaufenen Operation stand eine Rückkehr auf ein Footballfeld noch in den Sternen. Mit der medizinischen Abteilung von Clemson arbeitete Okonkwo Hand in Hand, um den Wide Receiver auf ein mögliches Comeback vorzubereiten. Der gesamten Saison der Tigers musste Ross von außen beiwohnen und mit ansehen, wie sie ohne ihn den Sugar Bowl gegen Justin Fields' Ohio State University verloren.

Sein Fehlen als Passempfänger für Lawrence machte sich bemerkbar. Für Ross umso mehr Ansporn, sich auf den Rasen des Memorial Stadium der Clemson University zurück zu kämpfen. Seine körperlichen Fortschritte erreichten alle von Okonkwo gestellten Ziele und im Frühjahr 2021 durfte er für kontaktlose Drills zum Training der Tigers dazustoßen.

Exakt ein Jahr nach der Operation ging es für den 21-Jährigen wieder nach Pittsburgh für einige finale Tests - dort gab es das "Ok". Letztlich gab es von außen keine Einwände mehr, die Entscheidung lag bei Ross und seiner Mutter. 

Beide waren sich der Risiken und Gefahren bewusst, Ross zögerte dennoch keine Sekunde. "Ich will, dass es meiner Familie in Zukunft besser geht. Das war mit der größte Ansporn für mich, damit weiterzumachen, was mir das ermöglicht. Das will ich jetzt nicht aufgeben", erklärte Ross, warum sich das Risiko für ihn lohnt. 

Von seiner Mutter Charay, die bei jedem Meeting dabei war, erhielt er die volle Unterstützung: "Sein Heilungsprozess ist genau so verlaufen, wie er verlaufen sollte. Ich glaube nicht, dass sein Risiko höher ist als das eines anderen. Es macht mir Angst, aber ich schaue meinem Sohn beim Football spielen zu, seit er vier Jahre alt ist. (...) Ich möchte Justyn glücklich sehen, und wenn es Football ist, was ihn glücklich macht, werde ich ihn dahingehend unterstützen."

Bis er die endgültige Freigabe der Clemson Tigers erhielt, vergingen nochmal Monate. Kurz vor seinem eigentlichen Trainingsbeginn warf ihn eine Corona-Infektion zusätzlich zurück. Der Virus traf Ross hart - er hatte Atembeschwerden und verlor fast sieben Kilogramm Gewicht.

Aber der Wille zu spielen war stärker.

Zurück im Training, kreierte Coach Swinney einen Spielzug für Ross, bei dem er das erste Mal seit 20 Monaten einen Hit abbekam. "Ich war super nervös. Er kassiert den Tackle, steht wieder auf und alle atmen tief durch", sagte Swinney. Kurz darauf folgte aber gleich der nächste Rückschlag: eine Stressfraktur im Fuß. Ross spielte mit und gegen den Schmerz, lehnte eine Operation ab. Zu wichtig war für ihn die Saison.

"Ich hatte das Gefühl, ich müsse etwas beweisen. Nach der Nackenverletzung würde sich jeder fragen, mit welcher Leistung ich zurückkehre. Ich musste es der Welt beweisen, wollte, dass mich alle auf dem Feld sehen. Ich habe niemanden von der Fraktur erzählt", erklärte Ross seine Entscheidung.

In seinem ersten Saisonspiel fing er zwar nur vier Bälle für 26 Yards, seine Mutter rief er aber wegen etwas ganz anderem an: "Hast du gesehen, wie ich getroffen wurde?", fragte er sie, "ich wurde getroffen und bin wieder aufgestanden!"

In der Folge wurde sein Fuß allerdings zu einem immer größeren Problem, bis eine Operation unumgänglich war. In zehn Spielen führte er die Tigers mit 46 Pässen und 514 Yards in beiden Kategorien an, erzielte zudem drei Touchdowns. Nach der OP im November 2021 begannen schließlich seine Vorbereitungen auf den Draft. Im Februar durfte er wieder mit 100 Prozent trainieren. 

Beim Combine in Indianapolis ließ Ross die Drills auf dem Rasen aber doch aus und holte diese beim Clemson Pro Day einen Monat später nach.

Sein Telefon lag bereit, als er am Draft-Wochenende zu Hause in Alabama mit seiner Familie und Freunden auf das wichtigste Klingeln seines Lebens wartete.

Kein Team traute sich, das Risiko mit dem Wide Receiver einzugehen. Und doch gibt es ein Happy End. Denn er erhält seine Chance. Tom Polissero von "NFL Network" berichtet, dass ihn die Kansas City Chiefs als Free Agent verpflichten.

Die Konkurrenz dort ist groß und dennoch könnte es eine optimale Situation für Ross sein. Die Chiefs haben keinen hundertprozentigen Ersatz für den abgewanderten Tyreek Hill geholt, sich aber mit JuJu Smith-Schuster und Marques Valdez-Scandling namhaft verstärkt. Im Draft stieß noch Skyy Moore zum Receiver-Raum, in dem auch Mecole Hardman und Josh Gordon auf Einsatzzeiten hoffen. Dadurch lastet wenig Druck auf Ross, sofort zu performen.

Mit Patrick Mahomes hat er auf jeden Fall einen Quarterback, der sein Potential herauskitzeln kann. Dann wird sich zeigen, ob der ehemalige Clemson-Champion das erste Kapitel seiner neuen Geschichte in der NFL schreiben kann.

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